Themen und Positionen der Parteien (Sechsteilige Serie zur Bundestagswahl im September 2021)
2a): Themen in den Wahlprogrammen: Welche Schwerpunkte setzen die etablierten Parteien?
Liebe Leserinnen und Leser,
wie schön, dass Sie sich wieder in die „Wahlfibel“ hineingeklickt haben!
Sie erinnern sich? Ich hatte Ihnen in Teil 1 unserer Serie neun Schritte vorgeschlagen, wie Sie der Beantwortung der Frage „Wen soll ich bloß wählen?“ näher kommen können. Nachdem wir uns, als Orientierung, in Teil 1 Wahlumfragen und die Gründe für das Auf- und Absteigen verschiedener Parteien angeschaut haben, geht es nun in Teil 2 um die Themen und Positionen der Parteien, von denen man annehmen kann, dass sie wieder in den Bundestag einziehen werden. Ich habe Teil 2 in a) und b) unterteilt, damit es pro Artikel nicht zu viel wird: Heute, unter 2a), steht die thematische Schwerpunktsetzung bei den etablierten Parteien im Vordergrund. Das nächste Mal, unter 2b), werde ich Ihnen aufzeigen, welche konkreten Positionen die Parteien zu diesen Schwerpunkten verkünden. Einige thematische Schwerpunkte werden mehreren Parteien gemeinsam sein, aber ihre Positionen werden auch dazu differieren. Nach der Lektüre des heutigen Teils werden sie schon einmal wissen, welche Rolle die wichtigsten Themen in den Wahlprogrammen spielen, das heißt welchen Stellenwert sie da besitzen.
Doch zuvor eine kleine historische Einführung.
Kontinuität und Umbrüche: Ein ganz klein wenig Geschichte
Das Parteiensystem in Deutschland und vor allem das der Bundestagsparteien hat sich im Laufe der Zeit – wir werden im September schon den 20. Bundestag wählen – stark gewandelt:
Waren es im 1. Bundestag von 1949 bis 1953 noch acht Parteien/darunter eine Fraktion: CDU/CSU/ (vgl. obiges Bild mit Stimmzettel), sahen sich im 2. Bundestag (1957 – 1961) bis einschließlich 9. Bundestag (1961 – 1983) nur noch drei vertreten: CDU/CSU, SPD und FDP. Später gelangten auch noch Die Grünen (heute: Bündnis 90/Die Grünen) und wieder später die PDS (heute: Die Linke) in ihn hinein, danach noch die AFD. Seit 2017 besteht der Bundestag demnach aus doppelt so vielen Parteien wie noch zwischen 1961 und 1983, wenn auch aus zweien weniger als im 1. Bundestag. Ich wage die Prognose: Auch im 20. Bundestag werden es (mindestens) sechs Parteien sein.
Je nachdem wie man es bewertet, kann man entweder, positiv, sagen: Der Bundestag ist inzwischen vielfältiger als zwischen 1957 und 1983. Oder, negativ: Er ist zersplittert. Soweit ich das beurteilen kann, ist die wachsende Anzahl von Parteien im Parlament ein weltweiter Trend, der die generell größere Ausdifferenzierung heutiger Gesellschaften widerspiegelt. Auch hier sind zwei Interpretationen möglich: Etwas pessimistischer könnte man meinen: In schwierigen politischen Situationen braucht es mehr politische Parteien, damit die Stimmung des Wahlvolkes aufgenommen werden kann. Denn zum Beispiel die beiden traditionellen Volksparteien in Deutschland, die CDU/CSU und SPD, schaffen es nicht mehr allein bzw. sind gar keine Volksparteien mehr. Oder, optimistischer: Seitdem in unserem Land wieder mehr Parteien zur Wahl stehen, steigt auch wieder die Wahlbeteiligung, immerhin um fast fünf Prozent.
Auch im 20. Bundestag, da bin ich mir sicher, wird es keine dominante Partei geben, die allein die (absolute) Mehrheit der Sitze innehat. Eine Koalitionsregierung ist daher recht wahrscheinlich, eine Minderheitsregierung zumindest möglich. In der Regel hat zwar die stärkste Partei die Koalitionsregierung um sich geschart, das muss aber nicht so sein, etwa, wenn sich zwei andere Parteien zusammenfinden, die die Mehrheit im Bundestag, ganz ohne die wählerstärkste Partei, besitzen. Das deutsche Parteiensystem befindet sich also im Umbruch. Ein Bruch mit der Geschichte ist übrigens auch, dass mit Angela Merkel im September 2021 zum ersten Mal der Amtsinhaber (die Amtsinhaberin) nicht mehr zur Wahl steht. Was das schon das allein bei CDU/CSU und ihrer Kanzlerkandidatenwahl an Problemen bewirkt hat, habe ich in Teil 1 der „Wahlfibel“ beschrieben.
Wieviel Parteien nehmen an der Bundestagswahl 2021 teil?
Die Liste der Parteien, die an der kommenden Bundestagswahl im September teilnehmen werden, wird spätestens am 9. Juli 2021 vom Bundeswahlleiter bekannt gegeben. Bis jetzt haben 26 Parteien ihre Teilnahme angekündigt. Oh je! Da hat man wirklich die Qual der Wahl! Wer kann denn da noch informiert entscheiden? Und wer vermag überhaupt all die Wahlprogramme zu lesen, von denen manche über 100 Seiten lang sind? Muss man die überhaupt lesen?
Keine Angst: Die Zahl der relevanten Parteien wird sich erfahrungsgemäß reduzieren: Denn in der Regel beteiligen sich nie alle der grundsätzlich an einer Bundestagswahl teilnehmenden Parteien auch mit Landeslisten: 2017 traten 42 Parteien an, davon aber nur 34 mit einer Landesliste und – nur – 17 in Sachsen: Das ist also schon einmal weniger als die Hälfte. Und in diesem Teil unserer „Wahlfibel“ soll es nur um die etablierten Parteien gehen. Und das sind nur sechs! Sie sagen, das sei immer noch viel zu viel Arbeit, denn immerhin wären auch das noch 530 Seiten Lesestoff, und da sind die Wahldokumente von CDU/CSU noch nicht einmal dabei? Warum letzteres der Fall ist, erkläre ich Ihnen etwas später. Auch dann wäre es für Sie immer noch viel zu viel Lektüre? Sie haben ja so Recht! Gestatten Sie daher, dass ich Ihnen behilflich bin! Ein Service von MOST!
Warum für die Wahlentscheidung überhaupt Programme konsultieren?
Die Frage in dieser Zwischenüberschrift, so fühle ich, haben viele von Ihnen im Hinterkopf: Die Lektüre sei sowieso sinnlos, denn die Wahlprogramme der Parteien würden ja nie erfüllt, werden Sie womöglich denken! Oder? Die Parteien nennen das dann „Sachzwänge“ und sind „fein raus“! Und Sachzwänge gibt es ja immer, ob heute Corona oder damals die Hochwasserkatastrophe! Und, das haben wir ja gesehen, spätestens danach ist dann vieles „Schnee von gestern“ – heute zum Beispiel die Schuldenbremse! Auch hier haben Sie in Vielem Recht, aber nicht ganz: Das Argument der Sachzwänge als Begründung für die Nichterfüllung von Programmen könnte und würde am Ende ja jede Partei anbringen. Das aber bedeutet, es gibt da kein Plus oder Minus für eine konkrete Partei, sodass das für Ihre Entscheidung auch wieder nicht relevant ist. Außerdem können Sie aus den Wahlprogrammen durchaus Schlüssiges erfahren, zum Beispiel: 1) was die Parteien ausdrücklich nicht wollen, 2) was ihnen egal ist oder wozu sie sich noch zu keiner einheitlichen Meinung haben durchringen können, sonst würden sie es thematisieren, 3) was sie genauso oder anders sehen als die restlichen Parteien und – am wichtigsten – 4) ihre grundsätzliche Politikausrichtung.
Natürlich: Programme sind nicht alles. Umgesetzt werden können sie auch nur von den Parteien, die tatsächlich Regierungsverantwortung erhalten. Für die anderen (Oppositions-)Parteien sind sie lediglich Politikorientierung. Und sollten letztere Koalitionspartner werden, dann müssen sie Kompromisse aushandeln und auch dafür so manche eigene Forderung aufgeben – ein anderer „Sachzwang“. Aber selbst bei diesen nicht als Wahlsieger anzunehmenden Parteien haben Sie die „Qual der Wahl“, und da sollten Sie schon wissen, was nun sie voneinander unterscheidet!
Habe ich Sie überzeugt? Ja? Dann lesen Sie weiter. Nein? Weil alles, was in den Dokumenten steht, ohnehin „Schmarren“ sei? Auch dann müssten Sie weiterlesen, schon um mir das beweisen zu können! Nein, das wollen Sie nicht, aber neugierig sind Sie schon? Auch dann fahren Sie bitte fort. Auch neugierig sind sie nicht? Nicht einmal ein bisschen – bei der einen oder anderen Partei? Dann lassen sie Teil 2a) und b) aus und machen mit Teil 3 weiter.
Sie sind noch da? Wunderbar. Um uns im Folgenden an die Programmschwerpunkte der Parteien heranzutasten, werfen wir zu Beginn einen Blick auf „Formalia“, die aber durchaus – erste – Einsichten vermitteln:
Wahlprogramme 2021: Thematische Schwerpunkte der Parteien
Abbildung 1: Ein erster Blick auf Status, Seitenzahl, Titel und Kapitelüberschriften
* = zu Redaktionsschluss am 24.05.2021; Eigene Darstellung. Quelle: Wahlprogramme 2021 unter: https://www.bundestagswahl-2021.de/wahlprogramme/; abgerufen am 23.05.21. Achtung! CDU/CSU kommt hier und in der folgenden Tabelle nicht vor (zur Begründung vgl. im Text weiter unten).
Schauen wir zuerst auf Spalte 1 und 2: Am weitesten mit ihrer Programmatik sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt SPD, FDP und AFD. Bei ihnen ist sie beschlossen und veröffentlicht. Spalte 3 in der Tabelle dokumentiert: Am fleißigsten waren die Linke mit 148 Seiten. Am knappsten ist das Programm der SPD ausgefallen. Blicken wir nun auf Spalte 3 und die Titel der Dokumente: Wirkliche Ziele hat darin nur Die Linke angegeben. Aktuelles Handeln betonen FDP und, zusätzlich zur Zielvorstellung, Die Linke auch. Beide präsentieren sich als „Macher“. Von der FDP hat man das erwartet, doch Die Linke erschien bisher eher als Visionär und nicht pragmatisch. Eine Vision („die Zukunft“) hat sich hingegen die SPD auf die Fahne geschrieben. Im Titel wenig handlungsorientiert ist auch Bündnis 90/Die Grünen. Sie beschreibt mit „Deutschland. Alles ist drin“ lediglich einen Ist-Zustand, nicht das Soll. Der Eindruck aber täuscht, wenn man den Inhalt des Dokuments berücksichtigt, das muss ich schon jetzt einräumen. Der zweite Teil seines Titels ist sogar „dreifach-deutig“: „Alles ist drin“ kann heißen, in unserem Programm ist alles enthalten, alles kann inkludiert werden, aber auch, es ist alles möglich. Die AFD liefert gleichfalls eine Zustandsbeschreibung, anderenfalls stünde am Ende ihres Programmtitels ein Ausrufungszeichen.
Interpretiert man nun die Titel der Programmdokumente (noch) etwas mutiger und damit auch mit mehr Risiko, fällt auf, dass, zugespitzt ausgedrückt, dass von manchen versucht wird, auf den Feldern der Konkurrenten „zu wildern“. Freundlicher gesagt: Man will sich thematisch breiter aufstellen, als ursprünglich zu vermuten war. Besonders deutlich sieht man das am Programm von Bündnis 90/Die Grünen: Den Begriff „Deutschland“ am Anfang des Titels hätte man nur bei der AFD vermutet und nicht bei ihr. Bestimmt wollte sie dieses Feld nicht allein der AFD überlassen. Mit „Deutschland“ im Titel verweist Bündnis 90/Die Grünen zudem darauf, dass sie „staatstragend“ sein und sich nicht auf eine oppositionelle „Multikulti-Partei“ beschränken will. Dass sie Klima in den Mittelpunkt stellt, wusste man schon. Das musste sie nicht auch noch im Titel beweisen. Auch dass sich Die Linke besonders stark für soziale Gerechtigkeit engagiert – gewissermaßen ihr Markenzeichen – ist schon lange bekannt. Nun aber spricht sie auch von „Klimagerechtigkeit“. Das wirkt clever, weil sie sich damit, über den Zusatz „Gerechtigkeit“ zu „Klima“, von Bündnis 90/Die Grünen abgrenzt. Die AFD kontert mit ihrem Titel den von Bündnis 90/Die Grünen, indem sie zwar wie jene auch „Deutschland“ an den Anfang stellt, aber statt „Alles ist drin“ dem lieber „Aber normal“ hinzufügt. Die logische Schlussfolgerung liegt auf der Hand: „Alles drin“ ist schon einmal nicht „normal“. Was aber normal ist, scheint nur die AFD zu wissen: Sie erklärt es uns in ihrem Dokument jedoch nicht.
Titel sind „Schall und Rauch“? Sie denken, die „Titelmusik“ besage nichts und oft nicht einmal, was im weiteren Programmtext drinsteht? Manchmal ist es tatsächlich so.
Schauen wir daher weiter auf die Überschriften der jeweils ersten drei Kapitel, bei uns in Spalte 4. Da wird es schon etwas konkreter. Und man sollte doch davon ausgehen dürfen, dass in der Kapitelabfolge das Wichtigste immer zuerst kommt. Bei Bündnis 90/Die Grünen sind das die „Lebensgrundlagen“, bei der SPD „Zukunft, Respekt und Europa“, bei der FDP „Nie war es notwendiger, fit zu werden: Machen wir uns fit für den Aufholwettbewerb“ und bei Die Linke „Gute Arbeit, gute Löhne – Demokratie gilt auch im Betrieb“. Der Fokus von Bündnis 90/Die Grünen war auch hier genauso erwartbar. Die Schwerpunkte der SPD und der Linken erstaunen jedoch: Arbeit, Löhne und Betrieb sind ja klassische SPD-Themen, während Die Linke in früheren Zeiten eher die Ärmeren und Armen gekümmert haben. Die SPD wiederum fordert nun an erster Stelle Respekt (was das bedeutet, bleibt in den Überschriften offen) und setzt als bisher einzige Partei „Europa“ an die Spitze. Doch CDU/CSU könnte das wohl auch so formulieren. Wir wissen es nur noch nicht.
Bei der AFD wird Europa an zweiter Stelle genannt, an erster geht es ihr um Demokratie und Rechtsstaat. Das Thema Zuwanderung/Flüchtlinge, das man bei ihr an erster Position erwartet hätte, „kommt“ in ihrem Wahlprogramm erst als achtes Kapitel, bezeichnenderweise unter der Überschrift „Islam“. Dabei machen doch die Muslime unter den in Deutschland – vorwiegend zugewanderten – Lebenden nicht einmal sieben Prozent aus, und fast die Hälfte davon sind Deutsche (Staatsbürger)! Aber richtig ist auch, dass von den Asylbewerbern inzwischen rund 67 Prozent Muslime sind. Das Problem, sie zu integrieren, muss erst einmal bewältigt werden! Und, auch das sollte einbezogen werden, in Ostdeutschland leben nur rund 2 % der Muslime in der Bundesrepublik!
Nun ja, Titel und Kapitelüberschriften – was heißt das schon! Bestimmt sollen die nur Eye-Catcher sein! Also mehr ins Detail gehen, bitteschön, aber auch noch übersichtlich bleiben. Die Quadratur des Kreises? Versuchen wir es!
Zuerst wähle ich dafür die neun Themen aus, von denen ich annehme, dass sie Schwerpunkte aller Parteien sind und dass sie Sie wie mich am meisten interessieren: 1) Klima/Umwelt, 2) Wirtschaft/Wettbewerbsfähigkeit, 3) Demokratie/Staat/innere Sicherheit/Zivilgesellschaft, 4) Arbeit/Soziales/Sozialstaat, 5) Zuwanderung/Flüchtlinge, 6) Finanzierung, 7) EU/Euro, 8) Bundeswehr/NATO und 9) Beziehungen zu Russland. Diese Schwerpunkte nehmen in den verfügbaren programmatischen Dokumenten zwischen knapp 40 bis reichlich 81 Prozent des Platzes ein, also im Durchschnitt mehr als die Hälfte. Und was ist mit Corona? Richtig: Immerhin sehen gegenwärtig 74 Prozent der Bevölkerung in unserem Land zurzeit sie als ihr wichtigstes Problem an. Corona wird in den Dokumenten auch zwischen 17 (FDP) und 47 Mal (Die Linke) erwähnt. Interessant ist, dass sich bei ihr die Aussagen in der Programmatik fast immer darauf beschränken, was uns die Corona-Krise vor Augen geführt habe und dass ihre Folgen nun überwunden werden müssen. Doch eine langfristige Programmatik wird mit der Pandemie-Bekämpfung eher nicht verbunden. Wahrscheinlich gehen die Parteien 1doch davon aus, dass diese schreckliche Krankheit zum Amtsantritt des 20. Bundestages nicht mehr entscheidend sein wird.
Und mit welchen Themen füllen die Parteien den Rest ihres Raumes in den Dokumenten? Zum einen gehören zu ihm Titelseite, Impressum, Inhaltsverzeichnis, diverse Leerseiten und allgemeine Einführungen, also Seiten, die für eine komplexe Inhaltsanalyse nicht weiter zählen. Das können schon einmal zehn Prozent sein. Zum anderen werden Digitalisierung, Gesundheit/Pflege, Familie/Werte, Forschung, Hochschulen, Gender-/Generationengerechtigkeit sowie Frieden/Globaler Süden angesprochen. Diese Themen hätten Sie mehr interessiert? Schreiben Sie mir und ich reiche dazu etwas nach! Zur Digitalisierung füge ich auch noch hierselbst noch etwas hinzu.
Sie haben in der Tabelle bemerkt, dass die CDU/CSU als einzige der etablierten Parteien noch kein Wahlprogramm vorgelegt hat, auch keinen Entwurf. Sie wundern sich? Ich wundere mich auch. Mehr noch, die CDU/CSU besitzt noch nicht einmal ein aktuelles Grundsatzprogramm (das gültige ist von 2007!)! Mit dessen Erarbeitung wurde zwar schon vor mehr als drei Jahren begonnen. Doch danach geriet der Prozess ins Stocken: Zu sehr war die Partei mit eigenen Personalproblemen und natürlich, beim Regieren, mit Corona beschäftigt. Normalerweise geht ja die Verabschiedung des Wahlprogramms der Wahl des Kanzlerkandidaten voraus, oder beides geschieht „Hand in Hand“. Bei der CDU/CSU könnte es aber sein, dass zuerst die Parteivorsitzenden- und Kanzlerkandidaten-Frage gelöst werden musste, um erst danach die programmatische Richtung festlegen zu können. Lange wusste die CDU/CSU aber nicht, ob es Laschet, Söder oder Röttgen, vielleicht gar Merz werden sollte. Es kann also sein, dass es in ihr Richtungskämpfe gab und gibt, die textlich nur schwierig miteinander zu vermitteln sind. Aber wie kann eine Partei bzw. ein Parteienbündnis in den Wahlkampf gehen, ohne zu wissen, was sie will? Hat die schwindende Zustimmung der Bevölkerung für die CDU/CSU vielleicht auch damit zu tun, dass die Leute nun denken müssen, die Partei wisse nicht, was sie will? Friedrich Merz betrachtet es im Übrigen als strategischen Vorteil seiner Partei, das eigene Wahlprogramm als letzte von den etablierten Parteien aufzustellen, denn so könne man sich daran orientieren, was die anderen Parteien anstreben und es selbst dann anders machen.
Aber: Noch bevor die CDU/CSU ihr eigenes Programm fertiggestellt hat, legte sie schon einmal ein Argumentationspapier zur Kritik am Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen vor. Aber natürlich gibt es auch in der CDU/CSU schon einen längeren internen Diskussionsprozess um das Programm: CDU-Chef Laschet hatte, damals noch als Parteivorsitzender und einer von mehreren CDU-Kandidaten für die Kanzlerwahl, die Grundzüge seines Wahlprogramms öffentlich gemacht. Sein Zehn-Punkte-Papier „Für ein innovatives und lebenswertes Deutschland“ wurde Grundlage für eine Diskussion mit Wähler:innen im Internet. Die CSU will sich später zwar ganz auf das Programm der CDU einlassen und dieses Mal keinen eigenen „Bayernplan“ präsentieren. Doch zum einen war es auch ihre Reiberei mit der CDU in der Kandidatenfrage, die den Programmprozess in CDU/CSU verzögerte, zum anderen preschte sie kürzlich mit einer eigenen digitalen Programmkonferenzreihe vor. Die CDU mit Armin Laschet war „immerhin“ zugeschaltet. Doch jenseits der Ironie – in dieser „Schalte“ dokumentierten CDU und CSU vor allem Geschlossenheit.
In der folgenden Tabelle geht es um die Gewichtung bzw. den Grad der Priorisierung der ausgewählten neun thematischen Schwerpunkte. Dazu berechne ich, wie viel Prozent der Seiten die Themen in den Programmdokumenten füllen. Der Prozentsatz sei deshalb Kriterium, weil die absolute Seitenlänge der Programmtexte bei den verschiedenen Parteien sehr unterschiedlich ist.
Abbildung 2: Prozentsatz Programmseiten je Thema*
*Ohne Finanzierung, Europa und Soziales. ** Ohne Familie und Gesundheit. Eigene Darstellung. Quelle: Wahlprogramme 2021 unter: https://www.bundestagswahl-2021.de/wahlprogramme/; abgerufen am 23.05.21. Eigene Berechnung des Prozentsatzes nach Gesamt-Seitenanzahl und Seiten je Thema pro Dokument.
Was sagt uns diese Tabelle?
Es ist Die Linke (Zuwanderung/Flüchtlinge, Arbeit/Soziales, Finanzierung, EU/Euro) die quantitativ vier Schwerpunkte „beherrscht“. Das überrascht mich, denn diese Partei hatte ich einseitiger in Erinnerung, und bei Zuwanderung/Flüchtlinge hätte ich die AFD vorn vermutet, nicht Die Linke. Es folgt, mit Abstand, Bündnis 90/Die Grünen mit zwei Schwerpunkten (Klima/Umwelt und Wirtschaft). Bei Klima/Umwelt konnte man sich das so denken. AFD (Demokratie/Staat) und SPD (Russland) „besetzen“ jeweils ein Thema, die FDP keines. Thematisch-quantitativ am meisten ausgewogen sind FDP und SPD. Zur Digitalisierung sei nachgereicht, dass der Seiten-Anteil hier bei SPD und Die Linke 6 Prozent, bei allen anderen Parteien 2 Prozent beträgt. Auch hier ist Die Linke mit vorn. Da hätte ich für FDP und Bündnis 90/Die Grünen vergleichsweise mehr angenommen. Insgesamt erstaunt auch, dass jene Parteien, die (neben CDU/CSU) als Volksparteien bezeichnet werden (SPD) oder es sein wollen (Bündnis 90/Die Grünen), gerade nicht die meisten Themen dominieren, sondern vielmehr eine Partei, die mit großer Wahrscheinlichkeit in der Opposition landen wird, es sei denn, ein rot-rot-grüne Koalition käme doch zustande. Zugunsten von Bündnis 90/Die Grünen kann aber ins Feld geführt werden, dass ihre zwei Schwerpunkte zugleich die zentralen und am meisten in die Zukunft weisenden Kernthemen sind und darüber hinaus die, die für die Wählerschaft (nach Corona) momentan am wichtigsten sind.
Nun kennen Sie in etwa Gewichtungen bzw. Priorisierungen der Schwerpunkte der etablierten Parteien. Sind das auch Ihre prioritäre Themen? Bei welcher Partei haben Sie ihre Prioritäten vor allem gefunden? Können Sie nicht sagen, denn der bisherige nur quantitative Draufblick sagt Ihnen noch nichts, zumindest nichts Entscheidendes? Das verstehe ich vollkommen. Also sollten wir noch schauen, was die Parteien zu den Schwerpunkten qualitativ sagen! Was konkret wollen sie und was nicht? Das machen wir … im nächsten Teil unserer Serie. Bleiben Sie unserer „Wahlfibel“ daher gewogen und schauen Sie wieder herein!
Bis dahin, до следующего раза!
Ihre Heidrun Zinecker