Berlinale 2023: Liebe, Männlichkeit und Feminismus

Dieses Jahr präsentierte die Berlinale erneut eine Vielzahl unkonventioneller Filme mit Weltstars – experimentell, jenseits des Mainstreams und aktuell. Unsere Redaktion hat einige dieser Werke gesehen und ihre eigene Bewertung erstellt.

  1. Műanyag égbolt

Eine Animation für Erwachsene. Eine Welt in naher Zukunft: Tiere und Pflanzen existieren nicht mehr, Menschen leben unter einer Kuppel aus Kunststoff. Der Preis für das Weiterleben ist hoch: Im Alter von 50 Jahren wird jedem ein Samen implantiert, der sie in einen Baum verwandelt und die Bevölkerung mit Sauerstoff und Nahrung versorgt. Stefan stimmt diesem System zu – bis seine Frau Nora beschließt, ihr Leben zu beenden und sich freiwillig den Samen implantieren zu lassen. Um Nora zu retten, bricht Stefan die gesellschaftlichen Regeln.

Diese berührende ökologische Drama über den Klimaapokalypse wurde unter Verwendung von Rotoskopie erstellt. Das Drehbuch ist wissenschaftlich fundiert dank Beratern aus den Bereichen Geologie, Botanik und Meteorologie. Der Film regt nicht nur zum Nachdenken über viele Probleme – ökologischer und philosophischer Natur – an, sondern überzeugt auch durch hochwertige Animation. Man muss den Film unbedingt auf der großen Leinwand zu sehen.

Redaktionsnote: 10 von 10

  1. She came to me

Der Film, der die Berlinale 2023 eröffnete: Die Drehbuchautorin und Regisseurin Rebecca Miller drehte eine romantische Tragikomödie mit einem Star-Ensemble – Anne Hathaway und Peter Dinklage.

Ein einsamer und genialer Opernkomponist, verheiratet mit der schönen Patricia und in einer kreativen Krise, trifft auf eine temperamentvolle Kapitänin, die zur Liebe neigt. Gibt es eine Zukunft für diese Leidenschaft und zwei so unterschiedliche Menschen?

Dinklages Charakter ist sehr ernsthaft. Gleichzeitig bemerkte der Schauspieler auf der Pressekonferenz: „Manchmal ist es so, dass je dramatischer du spielst, desto lustiger wird es.“ Miller fügte dem Film einige weitere interessante Charaktere hinzu: einen Psychiater, der unter Zwangsstörungen und religiöser Besessenheit leidet, sowie einen ultrakonservativen Gerichtsstenografen und einen selbsternannten Ankläger, der von historischen Rekonstruktionen besessen ist. Ein gewisses Gleichgewicht schaffen zwei verliebte Teenager. Sie sind vernünftiger als ihre erwachsene Umgebung, die ihren Neurosen, zwanghaften Ideen und Vorurteilen nachgibt. Ein weiterer Charakter basiert auf einer realen Bekannten von Miller.

Es ist eine moderne Geschichte von Romeo und Julia mit Elementen der Oper, nicht autobiografisch, sondern inspiriert von einer Volksballade. Ein Film über „radikale Liebe“, wie Rebecca Miller ihn nannte, der es wert ist, angesehen zu werden.

Redaktionsnote: 7 von 10

  1. Perpetrator

Johnny ist rau, furchtlos und geradlinig. Sie knackt mühelos Schlösser und kann sich selbst versorgen, indem sie heimlich Geld für die Wohnung ihres einsamen Vaters beiseitelegt. Ihre Beziehung ist zerbrechlich und gleichzeitig seltsam symbiotisch. An ihrem 18. Geburtstag erhält Johnny einen Kuchen von einer Verwandten, der nach einem magischen Familienrezept gebacken wurde und zu einer radikalen Veränderung führt. Zur gleichen Zeit verschwinden Mädchen in Johnnys Schule nacheinander.

Der neue Spielfilm von Jennifer Ryder ist ein düsterer feministischer Mix aus Body-Horror, Science-Fiction und Thriller. Wie auch in ihren früheren Arbeiten betrachtet sie die Welt hauptsächlich aus der Sicht ihrer jugendlichen Heldinnen, die mit bissigem Humor und einem unerschütterlichen Sinn für Gerechtigkeit Momente der Unbeschwertheit und Solidarität aus der verdrehten Welt der Erwachsenen herausreißen.

Redaktionsnote: 6 von 10

  1. „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“

Das heiße Sommer 1990 in Thüringen. Maria (Marlene Burow), die bald 19 wird, lebt mit ihrem Freund Johannes auf dem Bauernhof seiner Eltern. Die Leidenschaft eskaliert, als sie zufällig Henners (Felix Kramer) vom benachbarten Bauernhof trifft. Eine einzige Berührung genügt, damit zwischen Maria und dem starken, charismatischen Mann, der doppelt so alt ist wie sie, eine unüberwindliche Leidenschaft entsteht. Haben solche Gefühle eine Zukunft?

Der Film, der die Geschichte der ehemaligen DDR jenseits der Stereotypen über Ostdeutsche liebevoll präsentiert, begeistert mit wunderschönen Landschaftsbildern (laut Regisseurin Emily Atef, ist Thüringen der schönste Ort in Deutschland). Die Dynamik zwischen Burov und Kramer gleicht einem Feuer.

Emily Atef berichtete, dass die Dreharbeiten sehr einfach waren, da das Buch, auf dem der Film basiert, äußerst filmisch ist. 60 junge Frauen nahmen am Casting für die Rolle der Maria teil. Die Bewerberinnen mussten ein Video einsenden, in dem sie zu ihrem Lieblingslied tanzen. Marlene schickte ein Video aus ihrem Urlaub in Costa Rica und überzeugte Atef mit ihrer Natürlichkeit und gleichzeitig Stärke und Einfachheit. Die Regisseurin hat das Profil der Heldin stärker gemacht als im Buch; Maria weiß, was sie will.

Redaktionsnote: 9 von 10

  1. Mammalia

Das Debüt des Rumänen Sebastian Mihailescu ist unvorhersehbar, reich an ungewöhnlichen Perspektiven und manchmal etwas abstoßenden Szenen (es ist durchaus möglich, dass der Regisseur sich von dem Film „Midsommar“ hat inspirieren lassen), einer eigenartigen Kombination aus Bild und Musik, die in jeder Szene überrascht.

Der junge Mann Kamil fühlt sich gedemütigt und unsicher bei seiner Partnerin, die sich einer geheimen Gemeinschaft von Frauen anschließt, die gruselige Fruchtbarkeitsrituale am See durchführen. Im Geist des Surrealismus arbeitet Mihailescu mit freien Assoziationen, zum Beispiel wenn der Schatten von Kamils kahlem Kopf auf dem nackten Körper seiner Partnerin an einen riesigen Penis erinnert – Humor im Stil von Eugène Ionesco und dem rumänischen Absurdtheater.

Man kann sich diesen Film ansehen, muss aber nicht.

Redaktionsnote: 2 von 10

  1. Sonne und Beton

Für die jungen Freunde Lucas (Levi Rico Arcos), Gino (Rafael Luis Klein-Hesling), Julius (Vincent Wimmer) und Sanchez (Aaron Maldonado-Morales) sieht der Alltag im trostlosen Berliner Neukölln mit seinen kastenförmigen Häusern immer gleich aus. Tagsüber bewältigen sie mehr schlecht als recht den Schulunterricht und kämpfen dann gegen die Langeweile an: Sie spielen Videospiele, rauchen Gras und versuchen, bei Mädchen Eindruck zu schinden. Sie versuchen, sich nicht in Bandenkriege und Drogenhandel einzumischen, bis sie an einem fatalen Sommertag zwischen die Fronten geraten.

Im Buch des deutschen Bloggers und Komikers Felix Lobrecht und seiner Verfilmung wurden echte Straßennamen angegeben, sodass man den Weg, den die Helden gehen, nachverfolgen kann. Während der Dreharbeiten lebten die Schauspieler in Gropiusstadt in Neukölln, auch Bewohner des Viertels, einschließlich Schüler, kamen vor die Kamera, und der Soundtrack des Films wurde von örtlichen Rappern geschrieben.

Der Film zeigt ehrlich und ungeschönt die Probleme der modernen deutschen Gesellschaft und die Unvollkommenheiten des Migranteneingliederungssystems. Die unteren sozialen Schichten, Gewalt, Alkohol- und Drogenabhängigkeit – vor diesem Hintergrund betrachtet der Zuschauer die Welt mit den naiven Augen von Jugendlichen aus dem Berliner Ghetto, mit ihren Misserfolgen und Erfolgen, einfachen Freuden und treuer Freundschaft und erinnert dabei an uns selbst in ihrem Alter.

Redaktionsnote: 8 von 10

  1. BlackBerry

Wussten Sie, dass der Prototyp des modernen Smartphones in Kanada erfunden wurde? Zwei sehr unterschiedliche Unternehmer – der hochintellektuelle Innovator Mike Lazaridis und der kompromisslose Geschäftsmann Jim Balsillie – begannen zusammenzuarbeiten. Mit einem von einem von ihnen erfundenen Gerät und vom anderen vorangetrieben, erreichten sie in zehn Jahren weltweiten Erfolg. Das BlackBerry-Gerät revolutionierte die Welt des Geschäfts, der Kommunikation und des Entertainments. Aber sobald BlackBerry neue Höhen erreichte, geriet das Unternehmen aufgrund des Marktkampfes und der Managementkrisen vom Kurs ab, was letztendlich zum Zusammenbruch eines der erfolgreichsten Unternehmen in der Geschichte der Technologie führte. Es entfaltet sich vor uns ein Bild von Erfolg und Scheitern sowie von Wettbewerb mit dem damaligen Neuling – dem heutigen Riesen Apple.

Regisseur Matt Johnson, der Mike spielt, begeistert uns mit seiner sarkastischen Art und Weise, die Geschichte der beiden Kanadier zu erzählen, die zwischen gemeinsamen Filmabenden ein Gerät erfanden, ohne das wir uns heute kein Leben mehr vorstellen können. Der Film steckt voller amüsanter Momente und Anekdoten aus dem Leben von Programmierern, die einige Stereotypen bestätigen.

Laut Matt Johnson bei einer Pressekonferenz spürt das kanadische Kino den Einfluss des „großen Bruders“ USA, daher müssen die Kanadier ihren eigenen Stil finden. Bei der Vorbereitung des Films führte das Filmteam Interviews mit mehreren ehemaligen Mitarbeitern des Unternehmens, von denen viele Tagebuch führten und die chaotischen Ereignisse dieser Jahre detailliert festhielten.

Redaktionsnote: 10 von 10

  1. Manodrome

Ralph ist jung und voller Energie, und seine Freundin ist schwanger. Und dennoch fühlt er sich nicht ganz in seiner Haut. Die Arbeit als Uber-Fahrer bringt weder Zufriedenheit noch finanzielle Stabilität. Als er in einen libertären Kult der Männlichkeit gerät – eine Gruppe, die Beziehungen zu Frauen ablehnt und glaubt, dass Frauen Männer manipulieren – entlädt sich die Wut, die in ihm gewachsen ist. Ralph beginnt, die Kontrolle über sich selbst und die Realität zu verlieren. Laut Jesse Eisenberg, der Ralph spielt, erinnert dieser Film an einen fiebrigen Traum, in Ralphs Leben passieren mehr Ereignisse als er verarbeiten kann.

Ralph ist keineswegs ein stereotypischer Frauenhasser, und eine Figur hilft uns, die Konsequenzen männlicher Zerbrechlichkeit besser zu verstehen. Trotz des düsteren Untertons ist der Film nicht ohne Humor. Die Handlung ist komplett fiktiv: Der Regisseur vermied bewusst jede Ähnlichkeit mit realen Gruppen ähnlicher Art.

Redaktionsnote: 6 von 10

Maria Knyazeva
Foto: Berlinale.de

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