– Betrachtungen zum 65. Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm –
Zum 65. Mal lud die Stadt Leipzig auch in diesem Jahr internationale Filmschaffende und Publika zu sich ein, um eine Woche lang aktuelle Dokumentar- und Animationsfilme anzuschauen, sich auszutauschen, dazuzulernen und Kontakte zu knüpfen.
Für mich als Medienwissenschaftler, Filmfreund und Kinogänger ist das Festival für Dokumentar- und Animationsfilm (DOK) eine regelmäßig wiederkehrende Gelegenheit, mich in meiner Wahlheimat Leipzig für eine Woche (mehr oder weniger) ganz einem meiner Lieblingsthemen (Medien, Film) und zwei meiner präferierten Filmgattungen widmen zu können. Vor der Pandemie war jenes für mich immer auch mit der Möglichkeit verbunden, in unterschiedlichen Filmtheatern – meist in der City, aber auch in anderen Stadtteilen – den Alltag draußen zu lassen und meine Sinne auf das präsentierte Material zu richten.
Mit der Gefahr der Ansteckung mit dem Coronavirus ist für mich aus Vernunftsgründen ein Kinobesuch allerdings bis auf Weiteres tabu, sodass ich mich auch in diesem Jahr wieder freute, einen Großteil des Programms vor der heimischen Flimmerkiste genießen zu dürfen. Leider war die Enttäuschung groß, als ich feststellen musste, dass – anders als in den beiden Vorjahren – die unter dem Label DOK Stream online verfügbare Auswahl von insgesamt 246 Festival-Beiträgen auf ganze 11 Filme beschränkt worden war, was einen „objektiven“ oder zumindest umfassenderen Blick auf das vor Ort präsentierte Angebot unmöglich macht. So entziehen sich die auf großen Anklang gestoßene Retrospektive Die Dokumentaristinnen der DDR sowie zwei daran angelehnte Matineen in Gänze meinen Betrachtungen. Auch den Armut, Faschismus und Migration thematisierenden Stop-Motion-Puppentrickfilm sowie gleichzeitig Festival-Eröffnungsfilm des französischen Regisseurs Alain Ughetto, No Dogs or Italiens Allowed, hätte ich mir gern angesehen.
Aus einer journalistischen Perspektive sollte dies aber kein Hinderungsgrund sein, sich den 11 Dokumentar- und Animationsfilmen zwischen 7 und 86 Minuten Länge im DOK Stream zu widmen – nicht zuletzt, weil es allesamt prämierte Festival-Filme sind. Nur muss dies ohne Anspruch auf eine Aussage über das filmische Gesamtprogramm geschehen.
Die Produzent:innen widmen sich in jenen Werken einem Themenspektrum, das von unserem Kontinent Europa und dessen Grenzen, von Heimat und Gemeinschaft, der Schönheit von Natur und ihrer Zerstörung, Identität(en) und Rollenbildern bis hin zu mit filmischen Mitteln geschaffener visueller Kunst reicht – überwiegend gängige wie drängende Fragen und Problematiken unserer Zeit, die nicht selten nach neuen Antworten verlangen, weil die „alten“ nicht mehr tragfähig und akzeptabel sind. Vier von ihnen sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden:
Ähnlich dem Eröffnungsfilm lässt sich auch der 30-minütige, seine Premiere feiernde polnische Beitrag Border Conversations (2022) von Filmemacher Jonathan Brunner dem Themenkreis Migration zuordnen. Im Mittelpunkt stehen hier polnische Aktivist:innen, die im Niemandsland vor der verschlossenen und bewachten polnischen EU-Grenze gegenüber jenen Menschen humanitäre Hilfe leisteten, die im Jahr 2021 über Belarus Richtung Mittel- und Mittelosteuropa flüchteten. Statt einen sicheren Fluchtkorridor zu ermöglichen, wurden seitens des polnischen Staates Männer, Frauen und Kinder gezwungen, wochenlang bei winterlichen Temperaturen in einem bewaldeten Gebiet unter menschenunwürdigen Bedingungen zu kampieren. Ein typisches Beispiel also für die restriktive und gegen internationale Menschenrechte verstoßende Migrationspolitik der EU – zumindest wenn es um nicht-europäische, nicht-weiße flüchtende Vertreter:innen der menschlichen Spezies geht.
Leben und Arbeiten dreier emanzipierter weißer, europäischer Frauen, die seit vielen Jahren in ihr Heimatdorf in den Karpaten nahe der Grenze zur EU integriert sind, porträtiert Maksym Melnyk in seiner 85-minütigen Dokumentation Drei Frauen (2022) ein Jahr vor dem Wahlsieg Selenskyis. Auf der Suche nach menschlichem Miteinander an einem aufgrund von Überalterung in seiner Existenz gefährdeten Ort, mehr als temporär Partizipierender an und in der dörflichen Gemeinschaft, denn als unbeteiligt beobachtende “Fliege an der Wand”, gelingt es dem Regisseur, in die individuellen wie verbindenden Welten der Postbeamtin, Landwirtin und Biologin einzutauchen, Momente aufzuspüren und uns als Zuschauer:innen daran teilhaben zu lassen, welche sonst eher im Verborgenen bleiben.
Um Artenvielfalt und deren system- wie menschengemachte Zerstörung geht es im 85-minütigen Beitrag Die toten Vögel sind oben (2022). Regisseurin Sönje Storm wirft dokumentarische Blicke auf die umfangreiche Sammlung ihres Urgroßvaters und norddeutschen Fotografen Jürgen Friedrich Mahrt (1882-1940). Hunderte von konservierten Exemplaren und Fotografien lokaler Pflanzen- und Tierwelt – aufgespießte Schmetterlinge, ausgestopfte Vögel, bunte Raupen etc. – sind Zeugnisse einer Reichhaltigkeit von Natur, welche wir bereits heute so nicht mehr kennen und vorfinden. Die gleichzeitig faszinierenden und teils bunt kolorierten wie leblosen und eingestaubten Fundstücke aus der relativ nahen Vergangenheit verweisen auf die bereits in der Realität angekommenen Auswirkungen unseres verantwortungslosen Umgangs mit unserem Planeten, dessen Naturräumen und Lebenswelten.
In der 72-minütigen Dokumentation Silent Love (2022) von Marek Kozakiewicz begegnen wir traditionell geprägten Strukturen im ländlichen Polen sowie drei Menschen, die sich nicht so ganz in das klassische Familienbild einfügen können und wollen: Die 35-jährige Agnieszka kämpft seit Monaten mit den Behörden um die Anerkennung des Vormundschaftsrechts für ihren jüngeren Bruder, nachdem beide zu Waisen geworden sind. Sie selbst möchte mit ihrer zehn Jahre älteren Partnerin Majka zusammenziehen, deren bislang von Heimlichkeit und starken Gefühlen füreinander geprägte Fernbeziehung selbst für Miłosz verborgen geblieben ist. Wie ein klassisches Theaterstück entfaltet sich der Versuch eines immer noch ungewöhnlichen Familienmodells in einer ihm wenig tolerant gegenüberstehenden Umgebung vor den Augen der Zuschauer:innen.
Alle 11 von der Presseabteilung des Festivals dankenswerterweise zur Verfügung gestellten filmischen Beiträge lassen eine Qualität auch des übrigen Programms erahnen, welches wahrzunehmen, mir leider nicht möglich war. Zu wünschen wäre, dass auch im kommenden Jahr 2023 mit hoffentlich ebenso spannenden Dokumentar- und Animationsfilmen das Online-Angebot des DOK Leipzig wieder so reichhaltig ist wie in den beiden Vorjahren – auch im Sinne der Inklusion von Menschen mit unterschiedlichen Möglichkeiten und Bedürfnissen wäre dies begrüßenswert.