Filmische Begegnungen mit dem unmöglich Möglichen

Ein Besuch auf dem 61. DOK Leipzig 2018

Unter dem Motto „Fordert das Unmögliche!“ trafen sich vom 29. Oktober bis 4 November 2018 cineastisch interessierte Menschen in Leipzig in diesem Jahr nunmehr zum 61. Mal im Rahmen des International Leipzig Festival for Documentary and Animated Film (DOK) – eine Veranstaltung, welche in zwei politischen wie wirtschaftlichen Systemen beheimatet war bzw. ist und zahlreiche internationale wie auch einheimische Gäste vor die Leinwände zahlreicher Leipziger Kinos und in andere Veranstaltungsorte zieht. 306 Filme aus 50 Ländern waren zu sehen. Als Länderschwerpunkt stand in diesem Jahr das alte und neue (Post-)Jugoslawien im Mittelpunkt.

In Vorwegnahme des Mottos des diesjährigen Festivals, welches auf den Ausspruch der aufgrund seiner Handlungen zurecht umstrittenen Ikone der 1968er, Che Guevara, „Seid realistisch, fordert das Unmögliche“ zurückgeht, hatte Festivaldirektorin Leena Pasanen bereits im Jahr 2017 eine Selbstverpflichtung des DOK bekannt gegeben, einen Frauenanteil an Regisseur*innen im Deutschen Wettbwerb von mindestens 40 Prozent realisieren zu wollen. Im Widerspruch zum bislang existierenden deutlichen Ungleichgewicht konnten sich Festivalsprecherin Julia Weigel und Leena Pasanen bereits auf einer Pressekonferenz am 16. Oktober 2018 über eine Frauenquote von über 50 Prozent im gesamten Festivalprogramm freuen: „Wir sind solz, dass schon in diesem Jahr die Hälfte der Filme von Frauen kommen“, äußerte sich die Festivaldirektorin über jene Entwicklung.

Der Länderschwerpunkt sollte auch mein Einstieg ins diesjährige Dokumentar- und Animationsfilmfestival sein. Im Arthauskino Passage-Kinos – dessen Kinosaalnamen wie Astoria, Universum, Wintergarten, Filmeck und Casino ehemaligen historischen Leipziger Lichtspielhäusern entsprechen – waren am Dienstagabend die beiden Dokumentarfilme Kein Ende (Slowenien, 2018, 6 min) und Srbenka (Kroatien, 2018, 72 min) zu sehen. In poetischen Bildern verknüpft Regisseur Jakob Krese im ersten Film Erinnerungen an seine Mutter und Gedichtverse von ihr, der slowenischen Dichterin und Humanistin Marusa Krese mit Schwarz-Weiß-Fotos der Fotografin Meta Krese. Er reflektiert anhand der Geschichte einer Schiffsüberfahrt auf dem Meer die Hoffnung, welche Marusa Krese ihren Kindern mit auf den Weg gab: Es gibt kein Ende, auch wenn Krieg ist. Verneinung und Bejahung dieser Zuversicht befinden sich im Widerstreit.

In Srbenka dokumentiert Regisseur Nebojsa Slijepcevic Proben und Premiere des Theaterstücks Aleksandra Zec über die Hinrichtung eines serbischen Mädchens und ihrer Familie durch Kroaten während des Kroatienkriegs. Der immer noch schwelende Konflikt zwischen Serb*innen und Kroat*innen manifestiert sich in der individuellen Angst von in Kroatien lebenden Serb*innen, als solche*r wahrgenommen und ausgegrenzt zu werden. Schüler*innen verschweigen ihre – wenn auch teilweise mehrere Generationen zurückreichend – serbischen Vorfahren, um nicht von Mitschüler*innen ausgegrenzt zu werden, Erwachsene ihre kulturelle Zugehörigkeit, aus Angst vor Arbeitsplatzverlust. Mitglieder des Ensembles erzählen über ihre Erlebnisse zur Zeit des Krieges, während der sie selbst Kinder waren. Sie hinterfragen zum Teil den Fokus auf die Thematisierung serbischer Opfer im Krieg. Zur Premiere stehen jugendliche Rechtspopulist*innen vor dem Theatereingang mit Schildern vor 25 Jahren getöteter kroatischer Kinder. Theaterregisseur Zoran Frljic will provozieren und zum Nachdenken anstoßen, er ist bekannt dafür, dass er mit dem Finger auf die eigene problematische Verwobenheit in aktuelle oder historische Geschehnisse des jeweiligen Landes, in welchem er eine Aufführung vorbereitet, zu zeigen – ein Grund, weshalb an nicht wenigen Häuserwänden Kroatiens Graffiti mit an ihn gerichteten Todesdrohungen stehen. Mehrere Schulkinder interviewen im Stück das getötete Mädchen, eine von ihnen die 13-jährige Aleksandra Zec, deren Name im Filmtitel zu lesen ist, lebt als Serbin in Kroatien. Sie fühlt sich in ihrer Schule ausgegrenzt, weiß aber nicht, ob ihr kultureller Hintergrund die Ursache ist, weil sie bislang Angst davor hatte, sich öffentlich zu „outen“ – sie tut es nun bei der Premiere auf der Bühne. Am Ende des Films folgt die Kamera ihr nach, als sie allein und schweigsam das Theater verlässt und sich auf den Weg nach Hause macht.

Ein ganz anderes Thema spricht Filmemacherin Beryl Magoko im Dokumentarfilm In Search (Deutschland, 2018, 90 min) an, in welchem sie die Zuschauer*innen Einblicke in ihre persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema Genitalverstümmelung und daraus folgendem gefühlten Verlust an weiblicher Identität gibt. Als Kind in einem kleinen kenianischen Dorf lebend, war sie – wie auch ihre Schwestern, ihre Mutter und Großmutter vor ihr – selbst Opfer geworden. Ihre Mutter hatte es damals nicht gewollt, sich aber der vorherrschenden Tradition im Stamm gebeugt und geschwiegen. Beryl Magoko nimmt bei einem ihrer Besuche in Kenia die Möglichkeit der Klitoris-Rekonstruktion wahr und findet erstmals das Selbstvertrauen, mit ihrer Mutter über die Thematik zu sprechen. Jene stellt sich hinter ihre Tochter und ist stolz auf ihren Mut. Auch wenn in vielen afrikanischen Staaten solche Rituale offiziell mittlerweile verboten sind, werden gerade in nicht wenigen ländlichen Gegenden mit starker Verwurzelung von Traditionen junge Mädchen nach wie vor diesem lebensgefährlichen Ritual unterzogen. Beryl Magoko möchte mit ihrem eigenen Handeln, ihrem Engagement und nicht zuletzt auch mit dem Dokumentarfilm einen eigenen Beitrag im Kampf dagegen leisten. Eine bewegendes Erlebnis war eine sich an den Film anschließende Publikumsdiskussion, bei welcher nicht allein die Filmemacherin selbst, sondern auch ihre Mutter, welcher der Flug aus Kenia nach Leipzig ermöglicht wurde, anwesend war.

Buchstäblich „last minute“ stand am Mittwochabend der Dokumentarfilm Female Pleasure (Schweiz / Deutschland, 2018, 97 min) auf dem Programm. Regisseurin Barbara Miller begleitet mit Deborah Feldman, Leyla Hussein, Rokudenashiko, Doris Wagner und Vithika Yadav fünf mutige und kluge Junge Frauen aus unterschiedlichen Kulturen und religiösen Gemeinschaften auf ihrer Suche nach der jeweils eigenen Sexualität im 21. Jahrhundert. Die individuellen Erfahrungen mit patriarchalen Strukturen und ihr Kampf um mehr Selbstbestimmung stehen im Zentrum der Filmhandlung. Aktuelle Bezüge zur #MeToo-Debatte, in welcher Frauen einen Raum finden, um öffentlich über ihr Erfahren von sexualisierter Gewalt durch Männer zu sprechen und Respekt einzufordern, lassen sich finden.

Alltägliche Erfahrungswelten von Jugendlichen werden im Rahmen der fiktiven Handlung des Animationsfilms Räuber & Gendarm (Deutschland, 2017, 8 min) vom Filmemacher Florian Maubach exploriert und ermöglichen dem / der Zuschauer*in einen Rückblick auf eigene Erlebnisse. Vor dem Hintergrund des gemeinsamen Freizeitvertreibs mit dem bei Jungen und Mädchen beliebten Versteck- und Fangspiel, dessen Traditionen bis ins 18 Jahrhundert zurückreichen, erlebt Protagonist Daniel, aus dessen Ich-Perspektive heraus die Geschichte erzählt wird, das Herausgerissenwerden aus der prototypischen Idylle kindlichen Spiels durch das aufkommende Gefühl einer ersten Liebe zur Spielkameradin Carla, was visuell durch scheinbar genau beobachtete Mimiken und Bewegungen sowie veränderte Farbschemata und auditiv durch Herzschläge in Szene gesetzt wird. Nahezu gleichzeitig mit dem Gefühl der emotionalen Hingezogenheit entsteht das Gefühl der Eifersucht auf einen anderen Spielkameraden, welcher sich gut mit Carla versteht und sie des Öfteren begleitet. Daniels eifersüchtiger naiver „Besitzanspruch“ gegenüber einem anderen Menschen – in diesem Fall Carla – äußert sich in problematischen Handlungen … Der Ausgang der Geschichte bleibt offen und ist letztlich einerseits von der Reflexion des eigenen Verhaltens des Protagonisten wie auch von einer seinen Gefühlen entsprechenden Zuneigung auf Seiten von Carla abhängig.

Resümierend kann dem DOK Leipzig wieder einmal ein vielseitiges und interessantes Programm bescheinigt werden, welches an Aktualität nicht verloren hat und sowohl zum Nachdenken als auch zum eigenen Engagement anregt, sowohl die Unmöglichkeit des Möglichen als auch das mögliche Unmögliche in Frage zu stellen. Auch im kommenden Herbst wird das DOK Leipzig zum 62. Mal seine Türen mit einer / m neuen Festivaldirektor*in öffnen, da Leena Pasanen ihr Amt weiterreichen wird.


Kenneth Plasa
Foto: DOK Leipzig / Susann Jehnichen