Zum 67. Mal jährte sich in diesem Jahr das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animatonsfilm (DOK Leipzig). Zwischen den letzten Oktober- und den ersten Novembertagen machten sich Leipziger:innen und Gäste aus einer Vielzahl von Ländern und Kontinenten in die beliebte Uni- und Buchmessestadt auf, um sich für eine Woche neuen und historischen Filmproduktionen auf der visuellen und / oder auditiven Ebene, kognitiv und emotional widmen zu können. Lichtspielhäuser in der Leipziger City und angrenzenden Stadtteilen öffneten ihre Pforten für Publikum und Macher:innen, traten insbesondere bei den zahlreichen Premieren in einen gemeinsamen Austausch über die präsentierten Werke. Im Wechsel der Jahreszeiten sowie im Angesicht einer Welt, die für immer weniger Menschen eine menschenwürdige Zukunft verspricht, ist DOK Leipzig immer auch ein farbenfrohes Licht, eine Insel zum Verweilen und Innehalten, zur Reflexion und geistigen Rebellion, zum Lernen und Verlernen, für Inspiration und Ideentanken. So war es mir auch in diesem Jahr wieder vergönnt, mit wissenschaftlichem, journalistischem und menschlichem Blick aus dem vielfältigen Angebot eine Auswahl zu treffen und während der Rezeption des einen oder anderen Dokumentar- und Animationsfilms von der „Welt da draußen“ einen angemessenen Abstand nehmen zu können, neue Perspektiven wahrzunehmen und von ihnen zu lernen, Mut zu nehmen und Kraft zu tanken. Wir alle widmen uns Medienprodukten wie auch der Welt, in der wir uns bewegen, nicht nur als Vertreter:innen einer bestimmten Zunft, sondern immer auch als in dieser Welt agierende und diese Welt erfahrende, denkende und fühlende Wesen.
Das Themenfeld Stagnation vs. Wandel zieht sich wie ein roter Faden durch die bunte Palette des diesjährigen Festivals. Auch in den zahlreichen gemeinsamen und individuellen Emanzipationsgeschichten von Frauen in ihren unterschiedlichen Lebenszusammenhängen tauchen Wunsch und Handeln zum Überwinden eines nicht als akzeptabel erlebten Ist-Zustandes immer wieder auf:
Unterwegs mit Umweltschutzaktivist:innen in Finnland
So begleiten wir in Once upon a Time in a Forest (Finnland, 2024) die 22-jährige Ida und ihre Mitstreiter:innen der Naturschutzgruppe Extinction Rebellion bei einigen ihrer Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen die Abholzung finnischer Wälder für kommerzielle Zwecke. Eindrucksvoll und nah am Geschehen schildert der Film den Mut und die Entschlossenheit der jungen Aktivist:innen, welche sich dazu entschieden haben, der Untätigkeit der eigenen Regierung angesichts eines sich immer offensichtlicher ankündigenden verheerenden Klimawandelns mit eigenem solidarischen Handeln zu begegnen. Wir lernen über ihre Ängste und Verzweiflung angesichts des irrationalen „Weitermachens wie bisher“, |
der Folgen für die einheimische und globale Tier- und Pflanzenwelt, für Millionen Menschen überall auf dem Erdball. Gespräche mit den Holz fällenden Unternehmen (z.B. Papierindustrie zur Toliettenpapierproduktion für Exporte ins Ausland) und Lokalpolitikern bleiben aufgrund gegensätzlicher Interessen erfolglos. Sie setzen sich in Absprache mit der indigenen Bevölkerung, den Sami, für das diesen verbriefte Recht, ihr Land und ihre Lebensweise zu schützen ein, sammeln Daten über gefährdete Tier- und Pflanzenarten, drängen auf den Schutz der Wälder durch Umwandlung in Naturschutzgebiete, blockieren Waldwege und Abholzugsmaschinen, betreiben umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit, demonstrieren mit Gleichgesinnten – und freuen sich über jeden ihrer gemeinsamen Erfolge. Einige der Aktionen mögen nach geltendem Recht sich in einer legalistischen Grauzone bewegen – andererseits dürfte vieles von dem, wogegen Ida und ihre Gruppe aktiv wenden, aus wissenschaftlichen und ethischen Gründen mindestens ebenso nicht erlaubt sein – wird aber im Gegenteil von vielen Industrienationen aktiv forciert. Wie überall auf der Welt, streiten auch hier zwei Lebensweisen, eine visionäre Zukunft und ein Verharren im Zukunft gefährdenden Status quo, miteinander.
„Glaskinder“-Perspektiven
In The Other One (Tschechische Republik / Slowakei, 2024) ist es die 18-jährige Johana, Tochter und ältere Schwester der neurodivergenten Roza, welche auf der Schwelle zum Erwachsensein mit ihrer familären Rolle als sogenanntes „Glaskind“ („Geschwisterkind eines Menschen, der die ständige und ununterbrochene Unterstützung seiner Bezugsperson benötigt“, www.betreut.de) ringt. Über Jahre hinweg waren im Familienzusammenhang ihre eigenen Bedürfnisse – teils selbst-, teils fremdbestimmt durch Aufgabenzuteilung ihrer Eltern – oft hintenangestellt. Ihre Entscheidung zum Start eines Studiums in einer entfernten tschechischen Großstadt bringt ihr neue Freiheiten, bedeutet andererseits für ihre Eltern und Roza Umstellungen und Einschränkungen. Wir dürfen hier einer Perspektive ziemlich nahe |
sein, welche nicht nur in Medienproduktionen oft „vergessen“ und in den Hintergrund gerückt wird, aber aus pädagogischen und gesellschaftlichen Gründen keineswegs vernachlässigbar ist – weil wir das Wohl aller Heranwachenden (wie auch aller Menschen generell) im Sinn haben, ihnen zuhören, ihren Bedürfnissen und Meinungen mit Respekt begegnen und sie ernst nehmen sollten. Das filmische Produkt und Johana selbst gewähren uns Einblicke in ihre Gedanken- und Gefühlswelten, schon früh in ihrem eigenen Entwicklungsprozess an sie herantragene Verantwortungen. Johana nimmt es als Grenzüberschreitung wahr, wenn ihr statt der gern ausgeübten Rolle als Schwester Rozas von ihren Eltern die Rolle eines dritten Elternteils aufgebürdet wird, und wie sich selbiges nachteilig auf Schulleistungen und Träume von Zukunft auswirken kann.
Verständlicherweise widmet sich die Dokumentation ihrem Titel und Ansinnen gemäß der Perspektive der Hauptfigur. Gewünscht hätte ich mir nur, dass auch Roza mehr zu Wort kommen, ihre Gedanken und Gefühle äußern darf. Zu oft werden vordergründig ihre von Gefühlen überwältigten Momente – mit angemessener Zurückhaltung meist auf auditiver Ebener – gezeigt, sie in meinen Augen zu sehr als Belastung und weniger als Person dargestellt. In den seltener gezeigten schönen Momenten zwischen beiden Geschwistern können dennoch einge individuelle Wesenszüge Rozas durchscheinen.
Regisseurin Marie-Magdalena Kochová erzählt im anschließenden Publikumsgespräch über ihre eigene Verbundenheit mit der Thematik des Films. Wie sie Johana bei feministischen Protesten kennenlernte und welche politischen wie persönlichen Berührungspunkte sie selbst als „Glaskind“ mit mit ihr verbinden. Sehr engangiert beteiligte sich Johana in Gesprächen und mit Ideen an der Realisierung des Dokumentarfilms. Es war ihr ein großes Anliegen, sich und ihre Perspektive einzubringen – auf das als Premiere im Cinestar präsentierte filmische Produkt ist auch sie stolz.
Monumentale Blickverstellung
Im Rahmen des Kurzfilm-Showcase Objekte, die näher sind, als sie scheinen in den Passage Kinos begegnen wir Stagnation und dem Wunsch nach Veränderung an unterschiedlichen Orten der Welt:
In der 31-minütigen Dokumentation What We Ask of a Statue Is That It Doesn’t Move (Griechenland / Frankreich, 2023) begibt sich Filmemacherin Daphné Hérékatis ins Gewühl der griechischen Metrpole und zum Urpsrung des originären Gedankens von δημοκρατία (als direkte Herrschaft des einfachen Volkes zur Beschränkung der Macht reicher Eliten [Oligarchie]). Wir sitzen mit ihr bei einer Wahrsagerin, einen Traum schildernd, in dem die Visionen ihrer Kindheit zu Stein geworden sind. Auch in Athen verfolgen sie auf Schritt und Tritt Denkmäler einer zur Museumsattraktion gewordenen Vergangenheit, während die Gegenwart in einem Status quo erstarrt ist, der Angst vor jeder größeren Bewegung, jedem visionären Wandel |
(vor jedem Heraus aus der platonschen Höhle, in der sich eine Gesellschaft eingenistet hat) zu haben scheint. Auf der Suche nach Erklärungen wälzt sie Bücher wie Das Kapital von Karl Marx, inszeniert spielerische wie politisch gehaltvolle Fiktionen (so streift sie als antike Karyartide – eine Frau darstellende Säulenskulptur – durch die Straßen unserer spätkapitalistischen Welt und entdeckt dabei die Liebe). Immer wieder begegnen uns öffentliche Aufführungen eines anarchistischen Künstler:innenkollektivs, welches das Manifest Jorgos Markis’ Sprengt den Parthenon! (1944) zitiert, in dem er zur Zerstörung von Kunst als Befreiung und Geste der Emanzipation, zum neu Zusammensetzen einer Welt (aus den Trümmern des Alten) aufruft. Die alte Welt ist zur starren Säule geronnen. Nich nur in Griechenland gilt es, sie als farbenfrohes Mosaik mit neuen Ideen aus ihren Bruchstücken neu und harmonisch zusammenzusetzen.
Auch im Dokumentarfilm Gut Ding will Weile haben (Deutschland, 2024) wird Geschichte in Stein oder Metall gegossen, auch hier verbaut sich dadurch möglicherweise der Blick auf eine kritische Reflexion von Gegenwart und Lehren der Vergangenheit: In der Stadt Leipzig scheint mensch ein Faible für Denkmäler zur Friedlichen Revolution zu haben. An unterschiedlichen, historisch symbolträchtigen Orten in der Leipziger City trifft mensch auf ein Exemplar dieser Gattung von in Monumente gegossener Interpretation von Geschichte. Nicht wenige Zuschauer:innen im Kinosaal der Passage Kinos scheinen jene naheliegende Deutung des 25-minütigen Dokumentarfilms mit einem Lächeln über diese Eigenart der sächsischen Metropole zu teilen. Seit dem Jahr 2008 werden Pläne für ein weiteres Denkmal diskutiert – mensch tut sich aber zurecht schwer mit dessen Realisierung. 25 Jahre nach den friedlich-revolutionären Montagsdemonstrationen stellen sich interessierten Zeitgenoss:innen viele Fragen: Wieviel haben wir von den Ansinnen derer, welche im Herbst 1989 für einen demokratischen und freiheitlichen Sozialismus motiviert auf die Straße gegangen sind, verstanden? Wieviel ist von ihren Forderungen und Träumen verwirklicht worden? Was ist im Alltagstrott einer völlig anderen Gesellschaft daraus geworden? Wie beurteilen damalige Protagonist:innen das Heute? Wie lassen sich mit Blicken aus dem Heute die Geschehnisse im Herbst 1989 überhaupt (und ideologiefrei) in ein Denkmal gießen? – Vielleicht auch: Brauchen wir noch ein weiteres Denkmal oder sollten wir uns nicht lieber um eine lebenswerte Zukunft für alle kümmern? Zwei Mitarbeiter der Leipziger Nikolaikirche diskutieren miteinander u.a. über die Frage, ob wir nicht die nächste Generation über Art und Weise eines solchen Denkmals entscheiden lassen sollten.
Strahlungsgeladene Geopolitik
Von Mitteleuropa wendet der im Regina Palast gezeigte Dokumentarfilm Valentina and the MUOStri (Schweiz / Italien, 2024) unseren Blick zum Städtchen Niscemi am Südzipfel von Zypern, für dessen Bewohner:innen der Ist-Zustand riesiger Parabolantennen des nahen US-Marinestützpunkts eigentlich unhaltbar ist: Die gesundheitliche Belastung ist aufgrund der großen Mengen elektromagnetischer Strahlung enorm. Wegziehen ist der einzige Rat, den lokale Ärzte geben können. Gleichzeitig macht es die Umgebung des Spionagesystems zu einem potenziellen Angriffsziel. Der auch in westlichen Gesellschaften bestehende Vorrang geopolitischer Interessen von Militärbündnissen vor den berechtigen Interessen direkt betroffener Bevölkerung spiegelt sich in der |
Handlung des Films wider. Die Ortung russischer Truppen im Ukrainekrieg hat Priorität. Wir begleiten die 26-jährige Protagonistin Valentina bei ihren alltäglichen Besorgungen für sich und ihre Eltern, für welche sie auf ein eigenes Leben außerhalb der familiären Zusammenhänge verzichtet, beim Häkeln von bunten Blüten und beim Absolvieren des Autoführerscheins. Immer wieder ist im Film das drohende Brummen der Satellitenanlage zu hören. Auch die in ihrer unmittelbaren Umgebung wahrnehmbaren Folgen des menschengemachten Klimawandels erschüttern die von klein auf naturverbundene junge Frau zutiefst. Gegen den Willen ihrer Eltern beteiligt sie sich an einer Protestdemonstration gegen den US-Marinestützpunkt. Weitere emanzipative Gehversuche in die eigene Unabhängigkeit (z.B. die Suche nach einer ihren Fähigkeiten und Interessen entsprechenden Arbeitsstelle) folgen.
Gleichheitsgrundsatz in Nöten
Diskriminierungserfahrungen und Emanzipatonsstreben der aus Venezuela in die Schweiz emigrierten Protagonistin Naima brachte Regisseurin Anna Thommen im gleichnamigen Dokumentarfilm im Rahmen des Publikumswettbewerbs im Cinestar (Schweiz, 2024) den Zuschauer:innen nahe. Die einstige Marketingmitatbeiterin für internationale Unternehmen muss sich im reichen Mitteleuropa als schlecht bezahlte Servicekraft durchschlagen. Naimas Geschichte ist examplarisch für die Wirklichkeit migrantischer People of Color in (Mittel-)Europa: Abschlüsse und andere Qualifikationsnachweise werden nicht anerkannt. Ihnen begegnet im Lebens- und Arbeitsalltag unterschwelliger oder gar expliziter Rassismus. Vorurteile und von Weißen Führungskräften sowie von Weißen Mitarbeiter:innen |
dominierte Entscheidungsgremien führen zu deutlich geringeren Karrierechancen. Ihr Kampf um einen Abschluss als Krankenschwester mit angemessenem Einkommen und das Sorgerecht für ihre beiden Kinder sind am Ende des Films von Erfolg gekrönt. Naimas Resilienz kann so manche Hürde überwinden, welche es nach GG, Art. 3 allerdings gar nicht geben dürfte.
Digitale Visionen hoffnungsvoller Transformation
Die Idee einer Fluxoplis, einer „Stadt des Wandels, in der nichts so bleibt, wie es ist“, in der Wandel als Kraft zur Gestaltung einer wünschenswerten, hoffnungsvollen Zukunft betrachtet wird, stand dieses Jahr im Mittelpunkt von DOK Neuland – einem Ort, an dem neue Entwicklungen meist digitaler visueller Informations- und Unterhaltungsmedien zur interaktiven Partizipation der Gäste präsentiert werden. Entsprechend stemmem sich auch die an den einzelnen Stationen ausprobierbaren Extended-Reality-Technologien und ihre Inhalte gegen die von vielen Menschen in |
spätkapitalistischen Gesellschaften erkenn- und fühlbare Starre, stellen die uns bekannte Welt zunächst in virtuellen Räumen auf den Kopf. Im Hauptbahnhof begegnen wir an unterschiedlichen Stationen Projekten, die begeistern und einladen wollen, eine vielfältige und lebenswerte Zukunft miteinander zu gestalten. Die Macher:innen des partizipativen Films Traces of Responsibility (Schweiz, 2024) legen die Macht zum Entscheiden über den Fortgang des Geschichte ganz demokratisch in die Hände des Publikums.
Ihre ersten Gehversuche außerhalb des Ausstellungsbereichs wagte die Idee von Fluxopolis in der Stadt Leipzig selbst und lud ihre Gäste zum Wandeln und Neuem Entdecken zwischen den vier dezentralen Ausstellungsorten ein: Cinèmathéque, Museum der bildenden Künste (MdbK), Hauptbahnhof und Galerie KUB boten unterschiedliche Perspektiven auf das Thema. So unfertig sich vielleicht dieser erste praktische Gehversuch in seiner konkreten Ausführung anfühlte (im Ausstellungsbereich im Hauptbahnhof gab es vergleichsweise wenig zu entdecken), so unfertig eine inklusivere und menschenfreundlichere Gesellschaft auch immer sein mag, so begrüßenswert ist die demokratische Realisierung einer sich an den Bedürfnissen und Visionen all ihrer Bewohner:innen orientierten Weise gesellschaftlichen Miteinanders. Sie kann eigentlich nie vollendet sein, weil sie sich solidarisch und gemeinsam immer wieder den sich stellenden neuen Aufgaben mit neuen Ideen und Konzepten widmet, dabei niemanden ausschließt und auf der Strecke lässt.
Ciao
Mit Kopf und Schulterbeutel voll neuer Inspirationen und Ideen, meinem E-Book-Reader mit Kinotickets als Erinnerungsstücken, durfte ich dem DOK Leipzig ein weiteres Mal Auf Wiedersehen sagen – in der Hoffnung, auch im kommenden Jahr 2025 mir es mit anderen Cineast:innen in den gemütlichen Kinosesseln Leipziger Lichtspielhäuser gemütlich zu machen und mich dem Geschehen aus wissenschaftlicher, journalistischer und menschlicher Perspektive widmen zu dürfen
Kenneth Malu Plasa