Festival DOK Leipzig forderte Angst heraus

Zum 60. Mal öffneten vom 30. Oktober 2017 bis zum 5. November 2017 Leipziger Lichtspielstätten und weitere Veranstaltungsorte im Stadtzentrum sowie darüber hinaus ihre Türen, um von Nah und Fern angereisten Gästen eine Woche lang 340 neue Dokumentar- und Animationsfilme zu präsentieren. Filmemacher und Protagonisten der Filme waren angereist, um über Produktion und Inhalte ihrer Werke zu erzählen sowie sich den Fragen des Publikums zu stellen.

Einen thematischen Rahmen bot in diesem Jubiläumsjahr das Motto „Nach der Angst”, mit welchem die Veranstalter auf das Geschehen in der Welt und in unseren Gesellschaften aufmerksam machen, zum Nachdenken anregen und zum Handeln aufrufen wollten. Das zweitgrößte europäische Dokumentarfilmfestival nach Amsterdam gilt seit seinen Anfängen immer auch als eine Bühne für den politischen Dokumentarfilm. Bereits am Wochenende zuvor beschäftigen sich im UT Connewitz an drei Abenden Filme und Vorträge mit Rückblicken auf die Anfangsjahrzehnte während der Zeit des real-existierenden Sozialismus und des Kalten Kriegs. Den diesjährigen Jingle mit dem Titel Shake it off! Schüttel’ es ab!, in dem ein Hund nach einem Bad im Wasser sein Fell ausschüttelt, gestaltete der us-amerikanische Filmemacher Jay Rosenblatt, dessen Werk sich eine dreiteilige Kurzfilmreihe widmete.

Von einem Zelt am Rande des Leipziger Marktplatzes in die Leipziger Mädlerpassage war aufgrund des großen Interesses der vergangenen Jahre das DOK Neuland umgezogen und bot an mehreren Stationen interaktive 360-Grad- und 3D-Filme. Ein Lenticular-Wackelbild, eine Technik, welche bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts räumliche oder Bewegungsillusionen vermittelte, „begrüßte“ die Besucher gleich beim Eintritt. Der Film Sea Prayers (2017) thematisierte die Fluchtsituation einer syrischen Familie, indem er um den Betrachter herum gezeichnete Szenen entstehen ließ, die von einem Erzähler kommentiert werden. In Notes to my father (2017) klagte eine Tochter ihren Vater dafür an, durch sein Mitwirken an ein Bordell verkauft worden zu sein. Der deutsch-französische Fernsehsender arte war mit der Sendereihe Homo digitalis (2017), in deren einzelnen Episoden unterschiedliche Aspekte von Gegenwart und Zukunft der Digitalisierung diskutiert werden, vertreten.

Im Astoria-Saal der Leipziger Passage-Kinos traf Dokumentarfilm auf Animation, unter anderem mit dem fiktiven Animationsfilm Maned & Macho (2017) der Filmemacherin Yal va Koopal. Die Absolventin der Teheraner Kunsthochschule hatte dafür zwei Jahre und ca. 6.000 Einzelbilder mit Pinsel, Wasserfarben und Acryl verwendet. Aus einer feministischen Perspektive thematisiert sie die Lebensrealitäten von Frauen im Iran. Der Film arbeitet viel mit Symbolik, so werden die Tiere des Mädchens nicht von ihrer Familie akzeptiert, während der Hund ihres Bruders seinen Platz in der Familie erhält. Eine schwarze Gans steht für die Zukunftsträume der Protagonistin und ein Löwe für ihren Protest. Rote Fingernägel symbolisieren die Frauen zugewiesen stereotypen Rollen. In der Animadok The Fish Curry (2017) erzählt der indische Filmemacher Abhishek Verma über das Coming-out eines Sohnes gegenüber seinem Vater bei einem traditionellen Fisch-Curry-Essen, nachdem dieser ihm drei Fotos von Frauen als potentielle Heiratskandidatinnen präsentierte.

In das brandenburgische Golzow begibt sich das Filmteam des Dokumentarfilms Die neuen Kinder von Golzow (2017) – ein Ort, in welchem von 1961 bis 2007 eine Langzeitdokumentation über das Leben der Schüler einer Schulklasse gedreht worden war. Der aktuelle Film stellt als neue Bewohner Golzows eine von drei syrischen Flüchtlingsfamilie in den Mittelpunkt: wie sie aufgenommen wurden, sich in das Alltagsleben und Vereine integrierten, welche Proteste es gab, wie die örtlichen ersten Schulklassen durch die kinderreichen syrischen Familien vor der Schließung gerettet werden konnten – und nicht zuletzt ihre Hoffnungen und das Sich-Zurechtfinden in einer neuen Umgebung und einer anderen Kultur.

Georgien, dessen Filme seit einigen Jahren bei internationalen Festivals Aufmerksamkeit erhalten, stand in diesem Jahr im Länderfokus. Im DOK Talk berichteten die georgischen Filmemacherinnen Anna Dziapshia, Salome Jashi und Salome Machaidze sowie die in der Region tätige Nino Levaja von der Heinrich-Böll-Stiftung über die Rolle von Frauen im Land. Während der georgische Staat von Männern dominiert ist und diese sich mehrheitlich auch im Fernsehen weigerten, mit Frauen über Politik zu diskutieren, werden georgische Dokumentarfilme vor allem von Frauen produziert. Sie begreifen ihre Arbeit als Teil ihres Kampfes gegen traditionelle Rollenverständnisse, von welchen Georgien noch stark geprägt ist. Da es fast ausschließlich kommerzielle Kinos in Georgien gebe und Fernsehsender wenig Interesse an Dokumentarfilmen zeigten, sei es für die mehrheitlich weiblichen Filmemacherinnen allerdings schwierig, ihr Publikum außerhalb von Festivals und Kultureinrichtungen mit kleinen Sälen zu erreichen.

 

Kenneth Plasa

Related posts