Über Jahre hat er sich vorbereitet, ist gewachsen, schlank und rank, bis die Holzfäller kamen und ihn schlugen. Jetzt war es soweit – endlich sollte er die Krönung eines Weihnachtsmarktes werden, der Mittelpunkt, der alles überstrahlt – ein Weihnachtsbaum.
Er freute sich genauso wie ich darauf, die Vorweihnachtszeit zu schmücken. Liebevoll wollte er seine Zweige über das Krippenspiel beugen und mit seiner Krone den Markt überstrahlen. Oh, wie freute ich mich darauf ihn zu sehen.
Weihnachtsmarkt – die Luft erfüllt mit Räucher- und Kandisduft, leuchtende Kinderaugen spiegeln sich in glänzenden Weihnachtskugeln und ein von Punsch und Glühwein geschwängertes Lachen konkurriert mit den Turmbläsern und den Weihnachtsmelodien aus den Verkaufsständen. Ja, so hatten wir uns – der Weihnachtsbaum und ich – dass vorgestellt.
Doch nun steht er traurig und allein mitten auf dem großen Marktplatz. Corona hat die ganze Welt fest im Griff. Eine Pandemie wie sie besser kein Sciences fiction Film hätte darstellen können. Corona zwingt uns, unser bisheriges Leben völlig umzustellen. Anstatt Glühwein mit Freunden und Karussellfahrten mit den Enkelkindern gibt es jetzt Online-Weihnachtsmärkte.
Okay, ich will nicht voreingenommen sein und es einmal ausprobieren. Im Hintergrund tönt „Feliz navidad“ aus dem Radio, im Fenster leuchtet ein Schwipp Bogen und das Räuchermännchen pafft dicke Duftschwaden in die Luft. Ich stelle mir noch eine Weihnachtskerze und einen Glühwein aus der Flasche auf den Schreibtisch und nun kann es losgehen. „www.erzgebirgischer-weihnachtsmarkt.online“ . Die Oberfläche der Homepage ist ansprechend und lädt mich sofort zum Stöbern ein. Schön ist es gemacht, wie man einzeln Weihnachtsbuden betreten und sich umschauen kann. Wenn einem ein ausgestelltes Teil besonders gefällt, kommt man mit einem Klick sofort auf die Homepage des Anbieters. Und dann geht es wieder hinaus zu der nächsten Bude. Sogar eine Bühne ist aufgebaut, das Programm lässt so allein vor dem Schreibtisch oder warm eingepackt auf dem Sofa kaum Stimmung aufkommen. Ich zappe halt mal so durch.
Meine Pyramide läuft etwas unrund der Glühwein ist kalt geworden und das Radio ist mittlerweile bei dem Ohrwurm „Last Christmas“. Eine winterlich vorweihnachtliche Stimmung will sich bei mir nicht einstellen. Langsam wird das Surfen auf der Homepage auch etwas eintönig. Im Gedränge eines realen Weihnachtsmarktes ist mir noch nie aufgefallen, wie stark sich die Angebote der einzelnen Buden doch ähneln. Nein, der Online-Weihnachtsmarkt ist wirklich keine Alternative zu dem einzigartigen Flair eines realen Weihnachtsmarktes. Ich beschließe, meine dicken Stiefel und den Wollmantel anzuziehen und doch lieber noch einmal nach der einsamen Tanne auf dem Marktplatz zu schauen. Dick eingemummelt und natürlich mit Mundschutz stehe ich vor ihr und erbringe ihr meine Aufwartung.
Nein – Du bist in diesem Jahr nicht umsonst geschlagen worden. Ganz im Gegenteil, mit deiner zum Himmel strotzenden Krone bist du ein Symbol der Standhaftigkeit und Hoffnung. Du zeigst uns, dass wir uns auch von Corona nicht beherrschen lassen und auch diese dunklen Tage einen Stern der Zuversicht tragen.
Annette Feustel
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