Verweigerung, unsichtbar zu sein: mit der dokumentarischen Kameralinse gegen das Verschwinden widerständiger Zärtlichkeit

– Beobachtungen vom 68. Internationalen Festival für Dokumentar- und Animationsfilm –

 

Dokumentieren als Widerständigkeit

Dokumentieren ist einerseits manchmal alles, was bleibt (z.B. des Aussterbens von Tierarten im Kapitalismus-gemachten Klimawandel) – andererseits kann es auch eine Form von Protest sein. Die 68. Ausgabe des DOK Leipzig spiegelt dieses Gefühl in vielfältiger Weise und auf unterschiedlichen Ebenen wider. Das Festival selbst war in einer Zeit, in der Ausgaben für Soziales und Kultur gekürzt werden, überwunden geglaubtes Denken wieder offener sichtbar wird und politisches Handeln neuen Gefallen an Autoritarismus und Militarismus findet, noch vor wenigen Monaten von einer potenziellen Budget-Kürzung um 22 % betroffen. Umso erfreulicher war es zu sehen, dass aufgrund von solidarischer Rückendeckung deutliche Einschnitte verhindert werden konnten, vom 26. Oktober bis zum 1. November eine Woche lang sich die Türen Leipziger Lichtspielhäuser wieder einmal mehr öffneten und über 53.000 internationale Besucher:innen waren nach Leipzig gekommen waren, um sich auf 250 dokumentarische, animierte und XR-Werke einzulassen.

Die meisten der Filme, welche ich in dieser Woche anschauen durfte, handeln von der nötigen Unnachgiebigkeit und Zärtlichkeit des Widerständigseins gegen Verhältnisse, die ihnen Tag für Tag Steine in den Weg legen, sie unsichtbar machen wollen, um den lähmenden Status quo nicht zu gefährden.

 

‘© DOK Leipzig 2025



Identität, Körper, Zugehörigkeit – Kämpfe um Selbstbestimmung

In Intersection – Alles ist politisch treffen sechs Menschen an einem Tisch aufeinander, die von unterschiedlichen gesellschaftlichen Realitäten, Diskriminierungsgeschichten und Formen des Standhaltens geprägt sind. Was als ruhiges Gespräch beginnt, entfaltet sich immer mehr zu einer Bestandsaufnahme eines gesellschaftlichen Klimas, in dem Diskriminierung auf unterschiedlichen Ebenen wieder zunimmt, und der eigenen Verortung darin.

Dazwischen geschnitten sind Szenen, in denen die Teilnehmer:innen der Runde das Smartphone-Spiel Intersection ( https://play.google.com/store/apps/details?id=com.btf.intersection ) ausprobieren und reflektieren. Dessen Mechanik ist so simpel wie authentisch: Figuren in unterschiedlichen Formen, Farben und Mustern werden vor die Aufgabe gestellt, sich durch eine typische westliche Stadt zu navigieren. Ihre Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe entscheidet darüber, wie schwer oder leicht dieses Vorankommen ist. Immer wieder kommen sie an Propaganda-Postern vorbei, die suggerieren, mensch müsse sich nur hart genug anstrengen. Ein perfider Spiegel einer Realität, die sie selbst nur allzu gut kennen.

Als eine Person in Tränen ausbricht, zeigt sich, wie emotional erschöpfend die Bedingungen für politische Gegenwehr geworden sind. Doch gleichzeitig – und das ist vielleicht das Mutigste an diesem Film – bleibt da dieser Wille, trotz alledem weiterzumachen.

 

Gesprächsrunde
‘© DOK Leipzig 2025 / Intersection, Karoline Rößler

Smartphone-Spiel “Intersection”
‘© DOK Leipzig 2025 / Intersection, Karoline Rößler


Auf einem anderen Kontinent, nicht weniger politisch, Momente der Hoffnung und Freude in den Vordergrund stellend, nähert sich
Niñxs seinem Thema der Identitätsfindung der jungen Karla, die in der mexikanischen Kleinstadt Tepoztlán ihren Weg in ein trans Mädchenleben geht. Über acht Jahre begleitet sie die Kamera eines queeren Freundes der unkonventionellen Familie in ihrem Alltag, fragt sie nach ihren Vorstellungen und Träumen.

Der Film zeigt, wie befreiend ein unterstützendes Umfeld in Familie und Freund:innenkreis wirken kann. Karla geht mit ihren Eltern zu Pride Marches, schminkt sich mit ihrer besten Freundin, tanzt in Clubs (trotz Verbot ihrer Eltern), probiert sich aus. Die Kamera hält auch dann drauf, wenn die Außenwelt mit konservativen Erwartungen erdrückend wirkt – in der Schule, in Traditionen und Blicken.  

Karlas lang gehegter Wunsch, als Bastonera in typischer Tracht mit Twirling-Stab auf einer örtlichen Parade mitzumachen, wird zu einer Art Prüfstein: Darf eine trans Jugendliche öffentlich Platz einnehmen? Darf sie aktiv Teil einer Tradition sein, die sie liebt? Niñxs beantwortet die Frage mit einer Leichtigkeit, die Mut macht.

 

‘© DOK Leipzig 2025 / Intersection, Kani Lapuerte



Feministischer Aktivismus im Alltag

Fernab der großen feministischen Proteste in den iranischen Großstädten, zeigt Cutting Through Rocks das mutige Engagement von Sara Shaverdi – erste weibliche Gemeinderätin in ihrem kleinen iranischen Dorf. Hier widersetzt sie sich patriarchalen Traditionen, öffnet ihre Türen für Frauenkreise, engagiert sich dafür, dass Mädchen weiter die Schule besuchen und nicht in Zwangsehen verheiratet werden, gibt Schülerinnen ihr Selbstbewusstsein stärkenden Motorradunterricht (Teil einer befreienden, als stereotyp “männlich” gelten Sozialisation, welche sie selbst von ihrem Vater aufgrund des Ausbleibens eines Stammhalters erfahren hat) –  in einer konservativen Umgebung, in der solche Taten nicht nur missbilligt, sondern als Bedrohung der etablierten gesellschaftlichen Ordnung angesehen werden.

Die von der Filmkamera dokumentierten kleinen und großen Momente widerständigen Handelns bleiben im Gedächtnis der Frauen, denen Sara hilft, und der Zuschauer:innen. Daran können auch Anfeindungen, Repression und Gerichtsbeschlüsse – die ebenso gezeigt werden, nichts ändern: In einer Szene schlägt ein Onkel ein Mädchen auf ihrem Motorrad. Eine Schülerin in Scheidung, der Sara mit Einverständnis der Eltern bei sich zu Hause Schutz gewährt und bislang ungekannte Denk- und Freiräume eröffnet, wird von einem Verwandten aus diesem kleinen Safer Space wieder herausgerissen. In einer anderen Szene muss Sara vor Gericht erscheinen, weil sie als alleinstehende Frau „moralisch ungebührlich“ handle, indem sie Frauen gegen die traditionellen Strukturen auf- und zusammenbringt.

Statt aufzugeben, macht sie weiter: Gespräch für Gespräch, Verbesserung für Verbesserung, Motorradfahrt für Motorradfahrt. Jede einzelne Schülerin, welche nicht zwangsverheiratet wird und sich dafür entscheidet zu studieren. Ein steter Tropfen , so zeigt der Film, kann den Stein tief genug aushöhlen, damit autoritäre Strukturen zu bröckeln beginnen.

 

‘© DOK Leipzig 2025 / Cutting Through Rocks,  Sara Khaki & Mohammadreza Eyni

‘© DOK Leipzig 2025 / Cutting Through Rocks,  Sara Khaki & Mohammadreza Eyni

 

Methoden des schulischen Lehrens und Lernens stehen in Writing Life – Annie Ernaux Through the Eyes of High School Students im Mittelpunkt. In offener Lernumgebung am runden Tisch lesen und diskutieren französische Schüler:innen die Texte der feministischen Autorin und Nobelpreisträgerin Annie Ernaux. Die Kamera fängt Neugier und Verwunderung, Unsicherheit, Staunen und echte Überraschung der Lernenden ein: über Lebensweisen und unhinterfragte Geschlechterrollen vergangener Jahrzehnte, wie auch über die detaillierten und enttabuisierten Beschreibungen des Lebensalltags von Frauen, deren Liebesleben und Sexualität.

Writing Life zeigt, wie Literatur und offene Lernräume Bedingungen der Möglichkeit schaffen, die heranwachsende Menschen motivieren können, Vergangenheit und Gegenwart zu reflektieren sowie das eigene Leben und Denken damit in Beziehungen zu setzen – gegebene Freiräume nutzen und gesellschaftliche Narrative zu hinterfragen lernen.

 

Writing Life: Annie Ernaux Through The Eyes of High School Students (Regisseurin: Claire Simon)
‘© DOK Leipzig 2025 / Rosebud Productions



Kolonialismus, Landraub und Restitution: Globale Gerechtigkeit verhandeln

Yanuni begleitet Juma Xipaia, die erste weibliche Häuptling im Gebiet Mittlerer Xingu (Brasilien), und zeigt ihren unermüdlichen Kampf für die Rechte der indigenen Völker. Wir sehen sie bei politischen Aktionen und auf internationalen Klimaschutzkongressen, als Staatssekretärin des ersten Ministeriums für indigene Angelegenheiten unter Präsident  Luiz Inácio Lula da Silva im Gespräch mit Gesandten der einheimischen Bevölkerung. Juma bewegt sich zwischen zwei Welten: der politisch aufgeladenen Hauptstadt Brasília und dem bedrohten Regenwald des Amazonas.

Die Kamera verweilt auf der Schönheit des Amazonas-Regenwaldes – und kontrastiert diese mit Aufnahmen von Konzernen, die Flüsse vergiften, Böden aufreißen und Wälder abbrennen. Ihr Ehepartner ist Mitglied eines Einsatzteams der Regierung, das auf gefährlichen Einsätzen gegen die Zerstörung der grüne Lunge unseres Planeten für Profitinteressen vorgeht.

Mit Yanuni erblickt Jumas zweites Kind das Licht einer Welt, das ihre Rechte und Bedürfnisse nach Jahrhunderten antikolonialen Widerstands immer noch nicht akzeptiert. Sie soll in der Kultur der Xipala aufwachsen, die Verbindung zur Flora und Fauna des Amazonas, welche sie als Quelle ihres Lebens verstehen und als deren Bewahrer:innen sie sich verstehen, nicht verlieren.

 

‘© DOK Leipzig 2025 / Yanuni, Richard Ladkanis

‘© DOK Leipzig 2025 / Yanuni, Richard Ladkanis

 

Von Abya Yala (präferiertes Wort für America Latina bei dessen indigener Bevölkerung) nach Mitteleuropa und Indien: In Elephants and Squirrels folgt die Kamera der sri-lankischen Künstlerin Deneth Piumakshi Veda Arachchige auf ihren Recherchen in Museumsarchiven der Schweiz. Ihr Ziel ist die Rückgabe der Gebeine und Kulturgüter ihrer Adivasi-Gemeinschaft, die von den Schweizer Naturforschern Fritz und Paul Sarasin im Fahrwasser der Kolonialismus zwischen 1883 und 1913 in Britisch-Ceylon und Niederländisch-Ostindien mit Hilfe von Zwangsarbeiter:innen geraubt und zur Grundlage einer der größten mitteleuropäischen ethnologischen Sammlungen wurden.

Arachchige reist entlang der Expeditionsroute der beiden Brüder. Sie spricht mit Ältesten der Adivasi, hält ihre Forderungen auf filmischem Material fest. Zurück in Basel, öffnen sich Schritt für Schritt die Türen für ein neues Kapitel der Restitution – nachdem ein Schreiben der sri-lankischen Regierung im Jahr 1970, das Rückgabe einfordert, von der Schweiz abgelehnt worden war:  Sie wird eingeladen zu Gesprächen in Behörden und Museen, diskutiert auf öffentlichen Veranstaltungen, berührt Gebeine von Vorfahren ihrer Gemeinschaft, setzt sich eine traditionelle Maske auf. Für Arachchige ist es ein unvergleichlich kostbarer und prägender Zugang zur Kultur ihrer Ahnen.

Als am Ende des Films gestohlene Gebeine und ein Teil der Werkzeuge, zeremoniellen Gegenstände und Waffen feierlich wieder zurückgegeben werden, ist auch ein Ältester der Adivasi anwesend, in dessen Museum ein vieles davon ein neues Zuhause finden wird.

 

‘© DOK Leipzig 2025 / Elephants and Squirrels,  Gregori Brändli

‘© DOK Leipzig 2025 / Elephants and Squirrels, Gregori Brändli



Arbeit, Solidarität und die alte Frage: „Which side are you on?“

Die Retrospektive Un-American Activities holt zeitgemäß historische Filme für eine erneute Auseinandersetzung mit Form und Inhalt aus den Archiven zurück  Unter der Vielfalt an dokumentarischen Produktionen befindet sich auch der Langfilm Harlan County (1976), in dessen Mittelpunkt der fast einjährige Brookside Strike von 180 Bergarbeitern und ihren Frauen in Kentucky gegen die Duke Power Company für bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne, Anerkennung ihrer Gewerkschaft und des Rechts auf Streiken steht.

Die Kamera begleitet sie bis tief in die Minenschächte, zeigt menschenunwürdige und krank machende Bedingungen, unter denen ihre Arbeitskraft ausgebeutet wird. Sie ist bei Versammlungen und Gemeinschaft stärkenden kulturellen Events dabei. Statt Off-Kommentaren, führen Worte und Handeln der Streikenden durch den Film. Immer wieder zu hörende politische Streiklieder verstärken die Immersion der dokumentarischen Bilder – allen voran Florence Reeces Which side are you on? Eine Frage, welche bis heute nichts an ihrer Aktualität verloren hat.

Erst als die Situation eskaliert, die Streikenden sich aufgrund der Gewalt privater Sicherheitskräfte des Unternehmens selbst bewaffnen müssen und ein junger Minenarbeiter ermordet wird, zeigt die Konzernführung Gesprächsbereitschaft. Ein Kompromiss wird mit einem Gewerkschaftsführer verhandelt, der sich von den Verhältnissen und Interessen der monatelang Widerstand leistenden Menschen vor Ort entfernt zu haben scheint. Auch wenn nach monatelangem Streik die Mehrheit ihrer Mitglieder zustimmt, der Kampf für das Recht zu streiken, muss auf einen anderen Tag verschoben werden.

 

‘© DOK Leipzig 2025 / Harlan County, Barbara Kopples

‘© DOK Leipzig 2025 / Harlan County, Barbara Kopples



Queere Alltagswelten im konservativen Amerika

Last but not least ist es Holler for Service, der zum Abschluss meiner individuellen filmischen Woche eine lebenslustige und charakterstarke, witzige und lesbische Südoststaatlerin porträtiert. Kellies Hardware-Store ist soziales Herzstück der 900-Seelen-Gemeinde Lumpkin im US-amerikanischen Georgia – trotzt dem Schwinden von Einwohner:innenzahl und Infrastruktur. Hier druckt sie das ein oder andere Dokument aus und beglaubigt es notariell, impft Haustiere, adoptiert streunende Hunde und beschäftigt gelangweilte Jugendliche. Ist bei Bedarf auch außerhalb der Öffnungszeiten ansprechbar.

Ihre lesbische Orientierung ist weder für sie noch den Rest ihrer Kund:innen ein großes Thema. Ungewöhnlich im ultrakonservativen Bundesstaat Georgia – ähnlich wie ihr Hardware Store selbst: eine Nische, in der sich ein wenig andere Spielregeln etablieren konnten.

Während der anschließenden Fragerunde im Kinosaal, bei der zur großen Freude der Zuschauer:innen die Protagonistin des Films selbst vor Ort war, gibt Kellie herzlich und mit hörbarem Südstaatenakzent ihre Antworten, bleibt – wie der Film – in guter Erinnerung.

 

Holler for Service (Regisseur:innen  Elfenkaemper & Kathrin Seward)
‘© DOK Leipzig 2025 / Walnut+Schultz Productions



Gewinnerfilme

Mit der Goldenen Taube im Internationalen Wettbewerb ging der diesjährige Hauptpreis an den Dokumentarfilm Peacemaker von Ivan Ramljak aus Kroation über den Beginn des serbisch-kroatischen Krieges zu Beginn der 1990er Jahre. In der Kategorie Kurzer Dokumentarfilm wurde Regisseurin Matilde-Luna Perotti für ihren Film After the Silence prämiert – als Versuch der Aufarbeitung ihrer persönlichen Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch in der Familie. Im Deutschen Wettbewerb traf die Wahl der Jury auf Active Vocabulary (2025), in dem die emigrierte Yulia Lokshina das Engagement einer russischen jungen Lehrerin gegen politische Indoktrination und Überwachung in der Schule dokumentarisch verarbeitet.

 

‘© DOK Leipzig 2025 / Active Vocabulary, Yulia Lokshina

Goldene und Silberne Tauben
‘© DOK Leipzig 2025 / Susann Bargas Gomez



Ein neues Kapitel

Zum Ende der Festivalwoche übergab dessen Leiter Christoph Terhechte den Staffelstab an Aleksandra Ola Staszel, welche bislang dem deutsch-polnischen Neiße Filmfestival vorgestanden hat. In ihrem neuen Amt könnte Stasziel zukünftig stärkere osteuropäische Impulse ins DOK Leipzig einfließen lassen.

Ola Staszel
‘© DOK Leipzig 2025 / Anna Flemming


Eine Collage beständiger Widerständigkeit

In all den Filmen – ob aus dem Iran, Mexiko, Sri Lanka, Brasilien, Frankreich, den USA oder den europäischen Archiven – zeigte sich die gleiche Grundhaltung: Menschen, die sich weigern, unsichtbar gemacht zu werden.

Das DOK Leipzig 2025 war damit mehr als ein Festival. Es war eine Woche, in der die Welt nicht nur abgebildet, sondern auch Hoffnung und Mut gemacht wurde. Eine Woche, in der sich Dokumentarfilme und ihre Macher:innen als aktiv Teilhabende an der Verwirklichung der Vision einer besseren Welt zeigten.

 

Kenneth Malu Plasa

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